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Wissen – eine Begriffserklärung
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- Veröffentlicht am Dienstag, 02. Januar 2018 19:40
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Hans Joachim Kujath
(Veröffentlicht in: STEIN, Axel; WIEGAND, Timm Sebastian; DEHNE, Peter; HÜLZ, Martina; KÜHN, Manfred; KUJATH, Hans Joachim; RÜHL, Uwe; STAHLKOPF, Enrico: Wisensgesellschaft als Herausforderung für ländlich-periphere Regionen. Beispiele aus Nordostdeutschland. Hannover 2016. Forschungsberichte der ARL 6
1.1 Wissen – eine Begriffserklärung
Der Begriff Wissensgesellschaft suggeriert eine wachsende Bedeutung des Wissens in allen gesellschaftlichen Prozessen, vor allem in den Arbeitsprozessen der Wirtschaft, und grenzt sich damit von der Industriegesellschaft ab, die geprägt ist von einer als Folge der sich vertiefenden industriellen Arbeitsteilung systematischen Trennung zwischen manueller und geistiger Arbeit, von Hand- und Kopfarbeit. Die wachsende Bedeutung zeigt sich besonders in der Herausbildung einer Wissensökonomie, die den Kern der Wissensgesellschaft bildet. Mit dem Begriff „Wissensgesellschaft“ wird dabei nicht unterstellt, in der Vergangenheit habe Wissen keine Rolle gespielt, sondern vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass wir heute nicht nur eine neue Qualität von Wissen in gesellschaftlichen Prozessen, sondern vor allem auch einen bewussteren und systematischeren Umgang mit Wissen beobachten. Das drückt sich unter anderem in dem gestiegenen gesellschaftlichen Stellenwert von Bildung, Aus- und Weiterbildung aus, aber auch in der Bedeutung, die öffentliche und private Forschungsleistungen in der Grundlagen- und Anwendungsforschung einnehmen. Schließlich ist unsere Wirtschaft in einem Ausmaß von permanenter Wissenserneuerung (Innovationen) durchdrungen, wie dies im Industriezeitalter nicht der Fall war. Wichtige Bereiche der Wirtschaft sind auf die Produktion von Wissensgütern spezialisiert (Expertise),[AS1] und auch die materielle Güterproduktion stützt sich systematisch auf neues und fremdes Wissen, um Produkt- und Prozessinnovationen voranzutreiben.
1.1.1 Daten-Informationen-Wissen
Obwohl unstrittig ist, dass Wissen zur wichtigsten Ressource in unserer Gesellschaft aufsteigt, ist der Begriff „Wissen“ immer noch eine „black box“. Unser Wissen über Wissen ist beschränkt (Stehr 2001:14).
Grundlage für die Generierung von Wissen sind Daten und Informationen, die sich mir den eigenen Erfahrungen bzw. dem eigenen Wissen kombinieren lassen. Unter Daten werden im Wesentlichen Fakten, Zeichen, Zahlen, Symbole verstanden, die sich mit Hilfe bestimmter Codes miteinander kombinieren lassen. Sie sind leicht übertragbar, weil sie in kodifizierter Form vorliegen, und können auf unterschiedlichen Trägermedien fixiert und räumlich über weite Distanzen übertragen werden, ohne dass es hierzu persönlicher Interaktion zwischen Wissensträgern bedarf.
Aus Daten werden Informationen, wenn sie bewertet werden und ihnen eine spezifische Relevanz zugeschrieben wird. Zum Beispiel wird aus der Zahl 5 eine Information, wenn diese mit dem Begriff Grad versehen wird und die Zahl somit innerhalb eines spezifischen Systemzusammenhangs zum Informationsträger einer Temperaturskala wird. Derartige Bewertungen stützen sich auf gesellschaftliche Konventionen und Regeln. So drückt die gleiche Zahl unterschiedliche Sachverhalte aus, je nachdem, ob man in Grad Celsius oder Fahrenheit misst. Es zeigt sich darin bereits, dass die Bewertung von Daten und ihre Umwandlung in Informationen Kenntnisse und Wissen bei denjenigen, die Daten bzw. Informationen interpretieren, voraussetzen. Informationen lassen sich ähnlich wie Daten speichern, verarbeiten und in der Regel auch über große räumliche Distanzen zwischen jenen austauschen, die entsprechenden Kenntnisse und Wissensgrundlagen besitzen. Beispielweise lassen sich zwischen Raumplanern planungsbezogenene Informationen ohne Schwierigkeiten übertragen, aber nicht ohne weiteres zwischen Planern und anderen Fachdisziplinen. Diese Gebundenheit der Informationen an spezifische Wissenskontexte bringt es mit sich, dass ihre Übertragung nur unter spezifischen Bedingungen möglich ist. Es gibt Fälle, in denen wegen der Spezifik der Information (etwa als neue wissenschaftliche Erkenntnis) ein Zugang nur mittels ausführlicher persönlicher Erläuterungen möglich ist. Informationen haben dadurch auch eine räumliche Dimension: Wenn Personen von Informationen ausgeschlossen werden können, sind davon zwangsläufig auch Räume betroffen, in denen Menschen leben, die aufgrund von Wissensdefiziten keinen Zugang zu spezifischen Informationen finden.
Daten, Informationen und Wissen sind eng miteinander verwoben. Wissen ist das Ergebnis der Kombination einer Vielzahl von Informationen, die vom Wissensträger verstanden, interpretiert und miteinander verbunden werden, es ist das Ergebnis von Lernprozessen (Schmidt 2011). Wissen lässt sich an Hand unterschiedlicher Merkmale differenzieren. Wir unterscheiden z.B. zwischen wissenschaftlichem Wissen ([AS2] Know-what und Know-why) und praktischem Wissen (Können, Fertigkeiten: Know-how). Diese grobe Unterscheidung lässt sich weiter treiben, indem – bezogen auf seinen Entstehungsprozess zwischen drei verschiedenen Wissensbasen – zwischen analytischem Wissen (Faktenwissen, Ursachenwissen, Know-why), synthetischem Wissen (Handlungswissen, prozedurales Wissen, Know-how) und symbolischem Wissen (semiotische Wissensinhalte, Bedeutungen, ästhetische Qualitäten) unterschieden wird.
Weitere Unterscheidungen nach den Eigenschaften des Wissens drängen sich auf, denn jede dieser Wissensbasen kombiniert in unterschiedlicher Weise explizites (kodifiziertes) Wissen mit implizitem, stillschweigendem Wissen der Personen. Polanyi (1966) hat bereits auf das Wechselspiel zwischen beiden Wissensformen hingewiesen. Unter implizitem Wissen versteht er schwer artikulierbare persönliche Fähigkeiten, Ideen, Intuitionen und Fähigkeiten, die von den Personen als solche nicht bewusst wahrgenommen werden oder mehr oder weniger bewusst durch „learning by doing“ oder „learning by interacting“ in sozialer Praxis angeeignet werden. Symbolisches und synthetisches Wissen sind hochgradig von implizitem Wissen geprägt, während die Entwicklung des analytischen Wissens sich stärker auf kodifiziertes Wissen stützt und selbst neues kodifiziertes Wissen hervorbringt. Alles neue Wissen tritt zunächst aber als implizites Wissen auf, und ein Transfer dieses Wissens zwischen Personen setzt geteilte Konventionen, Ansichten und eine gemeinsame Sprache voraus (Howells 2000).
Das implizite Wissen gilt als wichtige Ressource der Wissensgesellschaft, wobei die Umwandlung großer Teile dieses Wissens in eine systematische, kodifizierte Form eine wesentliche Leistung der Wissensgesellschaft ist. Während sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse darauf konzentriert, die Logiken physischer und sozialer Prozesse zu entschlüsseln, wird die Wirtschaft angetrieben, kodifizierbare, kausale Logiken zu identifizieren und für Produktionsprozesse und Produkte nutzbar zu machen. Ein wachsender Anteil unseres Wissens verselbständigt sich dadurch und wird als kodifiziertes, objektiviertes Wissen verfügbar. Um dieses Wissen dem eigenen Wissen hinzuzufügen, müssen wir jedoch in der Lage sein, dieses zu absorbieren, d.h. den Aussagen einen Sinn zu geben. Dieser Vorgang der Subjektivierung und Bildung von neuem persönlichem Wissen bedeutet, dass das empfangene Wissen sich zunächst aus den Kontexten des Senders herauslösen muss, um dann vom Empfänger durch Interpretation und Verarbeitung in den eigenen Wissenskontext internalisiert zu werden. Meusburger (2009, 2013) bezeichnet diesen Prozess des Wissenstransfers von einer Person zur anderen, vom Wissensproduzenten oder Kommunikator einer Information zum Empfänger und potentiellen Nutzer dieser Information als höchst voraussetzungsvoll. So sei das Versenden von kodifizierten Texten und Bildern keine Garantie dafür, dass der Empfänger die Information vollständig versteht, akzeptiert und in der Weise anwendet, wie es vom Wissensproduzenten intendiert war. Dies sei nur dann möglich, wenn beide Seiten ein ähnliches Vorverständnis mitbringen bzw. in ähnlichen Wissenskontexten beheimatet sind, z.B. in Fachgemeinschaften von Raumplanern oder Juristen. Er weist auch darauf hin, dass persönliche Kommunikation „face-to-face“ – also räumlich nahe Interaktion oder räumlich enge Interaktionsnetzwerke – wesentlich zum besseren Verständnis des Wissens der involvierten Akteure beitragen kann.
Nonaka und Takeuchi (1995) beschreiben diesen Vorgang als eine für die Wissensgesellschaft charakteristische Wissensspirale, in der Wissen ständig von implizitem in explizites Wissen und umgekehrt explizites Wissen durch Internalisierung in implizites Wissen umgewandelt wird. Sie beschreiben damit nichts anderes als Lernprozesse: Die Wissensgesellschaft ist letztlich eine vernetzte, lernende [AS3] Gesellschaft und die Wirtschaft, angetrieben vom Streben nach Gewinn durch Innovationen, eine lernende Ökonomie. Auf den Raum projiziert sprechen wir deshalb auch von spezifischen Orten des Lernens (Dosi 1996), denen Orte gegenüberstehen, an denen die Lernroutinen unterbrochen sind und die deshalb oft in eine tiefe ausweglose Krise geraten (wissensgesellschaftliche Peripherien).
1.1.2 Wissen als Handlungsvermögen
Wissen ist zunächst nur eine Bestandskategorie. Wie anhand der Wissensspirale bereits erkennbar ist, kommt es auf den kreativen Prozess an, auf menschliche Arbeit und Initiative. Selbst wenn es nicht primär um Wissenserzeugung geht, sondern um die Anwendung eines frei verfügbaren oder gekauften Wissens, so steckt der entscheidenden kreative Akt immer in der Kontextualisierung des Wissens für den konkreten Anwendungsfall (Moldaschl 2011: 292). Wissen lässt sich also als Fähigkeit zum sozialen Handeln, als Handlungsvermögen definieren, das seine Produktivkraft erst durch konkrete Anwendung in den besonderen sozialen Beziehungen oder Produktionsprozessen entfaltet (Stehr 2001). Wissen entsteht damit immer in einem spezifischen Anwendungskontext und wird zunächst nur innerhalb eines solchen Kontextes als gültig angesehen (Wittke/Heidenreich u.a. 2012).
Wenn sich die Anwendungskontexte räumlich verorten lassen, wird auch klar, dass Wissen eine räumliche Dimension besitzt, sofern es in räumliche Beziehungssysteme eingebettet ist, die sich auf unterschiedliche Regeln und Normen sowie Arbeitskulturen stützen. Seine Nutzung innerhalb anderer Kontexte ist nicht ohne weiteres möglich. Es muss aus einem Kontext herausgelöst und in neue Kontexte eingebettet werden. Ein und derselbe Wissenskomplex wird infolgedessen in verschiedenen Räumen nicht nur unterschiedlich interpretiert, sondern stößt beim Versuch, diesen in andere soziale und kulturelle Kontexte einzupassen, auf Schwierigkeiten. Es bedarf hierzu spezifischer Übersetzungsleistungen. Die physische [AS4] Distanz zwischen den unterschiedlichen Räumen ist dabei von nachrangiger Bedeutung. Vielmehr werden die Übertragung und der Austausch von Wissen erschwert oder erleichtert, je nachdem wie ähnlich oder verschieden die Kontextbedingungen zwischen den Räumen sind. Z.B. ist zu erwarten, dass das im Berliner Technologiepark Adlershof generierte Wissen am MIT in Boston besser verstanden wird als von den Firmen eines Gewerbeparks in Neubrandenburg. Informationen zwischen ähnlich beschaffenen Orten können folglich leichter zirkulieren und mit geringeren Transaktionskosten in die Praktiken des Empfängers integriert werden. Sind die Räume hingegen heterogen, sind umfangreiche Übersetzungsleistungen notwendig, um fremdes Wissen für die eigene Praxis verfügbar zu machen (Wood/Parr 2005; Ibert 2011: 30; Kujath/Stein 2011: 137). Kontextgebunden ist nicht nur das persönliche implizite Wissen, das sich nur in enger persönlicher Zusammenarbeit weitergeben und über große physische Distanzen nur schwer übertragen lässt (z.B. Meister-Lehrling-Verhältnis), sondern auch das kodifizierte Wissen. Letzteres lässt sich zwar leicht vervielfältigen und über große Distanzen verschicken, jedoch bedarf es zur Integration in Wissenskontexte an anderen Orten spezifischer persönlicher Kompetenzen zur Absorption des fremden, neuen Wissens. Es stößt aber auch auf die vor Ort vorherrschenden Erklärungsmodelle, soziokulturellen Kontexte und Arbeitskulturen, in die es sich einpassen (übersetzen) lassen muss (Saxenian/Sabel 2008).
Wissen wird heute bewusst auf allen denkbaren Anwendungsfeldern professionell eingesetzt und weiterentwickelt. Wir unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen Wissenspraktikern und Wissensspezialisten. Wissenspraktiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr Wissen, das neben dem erlernten Fachwissen zu einem wesentlichen Teil auch aus implizitem Wissen (Können, Fertigkeiten) besteht, durch Imitieren, Ausprobieren und Partizipieren für die Erstellung von Produkten und Prozessen nutzen und dabei weiter entwickeln (Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter). Dagegen arbeiten Wissensspezialisten mit Ideen, wissenschaftlichen Informationen und Fachkenntnissen, die sie für die Produktion von Ideen, Strategien und Konzepten einsetzen (Berater, Planer, Wissenschaftler). Sie erschließen bisher ungenutztes Wissen (Forschungsergebnisse, Kundenwissen, kulturelles Wissen usw.) und kombinieren dieses mit dem eigenen Wissen zu neuem Wissen. Sie nutzen hierfür verstärkt kodifiziertes Wissen (analytisches und synthetisches Wissen), das zwar handlungsrelevant und nützlich sein muss, sonst fände es keine Abnehmer, selbst aber in der Regel nicht unmittelbar produktiv eingesetzt wird (Kujath 2011: 14). Diese Differenzierung zwischen Wissenspraktikern und -spezialisten findet sich in der wissensbasierten Wirtschaft wieder als Trennung zwischen wissensbasierten Dienstleistungen (Rechtsberatung, Wirtschaftsberatung, Ingenieurdienstleister, Technikberater, Forschungsabteilungen der High-Tech Industrie, Informations- und Medienindustrie usw.) und High-Tech-Industrien.[AS5] Diese Unterscheidung spiegelt sich auch auf der räumlichen Ebene wieder. Wie verschiedene empirische Analysen belegen, ist in den großstädtischen Agglomerationsräumen nicht nur die Wissensvielfalt größer als in den ländlich peripheren Räumen, sondern auch eine Spezialisierung auf Wissensgenerierung durch Wissensspezialisten zu beobachten, während in den peripheren Räumen eher die Wissenswendung dominiert (Kujath/Zillmer 2010). Offensichtlich bieten die Städte einen räumlichen Kontext, in dem sich aufgrund der Wissensvielfalt und der Erreichbarkeit anderer Wissensträger die Reibungsverluste bei der Wissensbeschaffung, -verarbeitung und -verbreitung im Vergleich zu anderen Raumkonfigurationen deutlich verringern lassen. Anwenderwissen z.B. innerhalb eines Industriebetriebes bedarf hingegen weniger intensiver Interaktion und ist weniger auf die spezifischen Interaktionsmöglichkeiten angewiesen, die die Agglomerationsräume bieten.
1.1.3 Wissen als Gemeinschafts- und Privatgut
Unstrittig ist, dass es die besonderen Eigenschaften von Wissen im Allgemeinen und bestimmter Wissensformen im Besonderen schwierig machen, diese Ressource als ein ökonomisches Gut zu nutzen. Wissen lässt sich in der Regel nicht wie eine „normale“ Ware behandeln, d.h. Rivalität und das Ausschlussprinzip wie bei normalen ökonomischen Gütern kommen hier nur unter bestimmten Bedingungen zum Tragen. Vor allem kodifiziertem Wissen werden Gütereigenschaften zugeschrieben, die den Austausch über Märkte ermöglichen, z.B. Bücher, Zeitungen, Filme. Auf der anderen Seite führt der Verkauf von (kodifiziertem) Wissen nicht automatisch zu einem Transfer der Verfügungsgewalt über dieses Wissen. Derjenige, der dieses Wissen verkauft, bleibt im Besitz seines Wissens, und ist das Wissen erst einmal verbreitet, kann in der Regel niemand von seiner Nutzung ausgeschlossen werden. Nur durch institutionelle Schutzmaßnahmen wie Patente und Urheberrechtsansprüche kann kodifiziertes Wissen zeitlich befristet – und nicht wie ein freies Gut sondern nur gegen eine Zahlung – genutzt werden. Auf den Märkten für Bücher, Zeitschriften, Tonträger und Filme beobachten wir ein solches Verfahren. Auch in der Industrie hat ein zeitlich befristeter Patentschutz über neue Erkenntnisse Grundlagen für eine Institutionalisierung des Privateigentums gelegt, die nur über den Erwerb von Lizenzen anderen möglichen Nutzern die Verwendung dieses Wissens erlaubt. Auch die wissensbasierte Dienstleistungswirtschaft lebt vor allem vom Handel mit Wissen (Expertisen, Gutachten). Mit der wachsenden Bedeutung von kodifiziertem Wissen in allen gesellschaftlichen Bereichen nehmen auch die Bemühungen zu, die juristischen Eigentumsrechte immer weiter auszuweiten, z.B. auch auf Wissensangebote im Internet (Stehr 2001: 104). Durch das Internet kommt es zu einer radikalen „Veräußerlichung“ des Wissens, was dessen wirtschaftliche Veräußerbarkeit im Prinzip auf immer mehr Wissensbereiche ausdehnt.
Bisher gelingt die Durchsetzung von Eigentumsrechten aber nur teilweise. Selbst wenn Wissen entsprechend geschützt ist, kann es über Raubkopien, Imitation oder leichte Modifikationen außerhalb der ökonomischen Zirkulationssphäre Verbreitung finden. Zunehmend setzt sich aber auch die Einsicht durch, dass neue Erkenntnisse und Innovationen nur unter solchen Bedingungen entstehen, die vorhandenes und neues Wissen nicht zu monopolisieren und zu vermarkten versuchen, sondern nur, wenn es mit anderen Wissensträgern geteilt wird. Die Gesamtheit der informellen und formellen Regeln des Urheberrechts und der Patentierung stehen deshalb seit einiger Zeit [AS6] auf dem Prüfstand (Howells 1999). Wie die Auseinandersetzung um „open access“ zeigt, sichern sich Autoren wissenschaftlicher Publikationen gegenüber Verlagen, die ihre Arbeiten kostenpflichtig publizieren, in zunehmendem Maße auch einen parallelen Zugang zu freien Online-Publikationen im Internet mit dem Ziel, dieses Wissen rascher in der wissenschaftlichen Community zu verbreiten. Auch in der Industrie wird in zunehmendem Maße auf eine Absicherung der Eigentumsrechte über Wissen verzichtet, teils, weil durch die Publikation des Patents Mitwerbern häufig erst neue Erkenntnisse bekannt werden (Offenlegung des Wissens), teils, weil die Sicherung des eigenen Wissen oft einer Zusammenführung von Wissen aus unterschiedlichen Quellen im Wege steht. Kodifiziertes Wissen hat also Eigenschaften, die es in die Nähe von Privateigentum und Waren im herkömmlichen Sinn rückt, aber die Verfügungsgewalt über dieses Wissen ist in der Regel (zeitlich) begrenzt (Stehr 2001: 107).
Betrachten wir Personen als Träger von Wissen, vor allem von implizitem Wissen (Intuition, Know-how) neben Faktenwissen und analytischem Wissen, werden die Besonderheiten von Wissen noch deutlicher. Zwar kann ein Wissensarbeiter sein persönliches Handlungsvermögen verkaufen und als Wissensspezialist oder Anwender in ökonomische Prozesse der Wertschöpfung einbringen. Auf den Arbeitsmärkten herrschen zwar Rivalität und das Ausschlussprinzip, aber ein Großteil dieses Wissens wird in Lernprozessen mit anderen Wissensträgern in „untraded interdependencies“ geteilt, d.h. die Kommunikation zwischen den Beteiligten wird zu einem wichtigen Mechanismus des Wissensaustauschs und der Wissensgenerierung. Wir unterscheiden dabei zwischen intendierten und unintendierten Formen der Weitergabe von Wissen:
Intendierte Formen der Wissensteilung zielen darauf, Wissen geplant (intendiert) gemeinschaftlich zu generieren, Mit dem von Chesbrough (2003) und von Hippel (2005) sowie West/Bogers (2014) propagierten Ansatz der „open innovation“ lösen sich z.B. Unternehmen aus dem bloßen Erwerb von Wissen über die Arbeits- und Gütermärkte. Sie verschaffen sich vielmehr durch Kooperation und die Bildung von fachlichen und epistemischen Gemeinschaften Zugang zu externen Wissensquellen der Kunden, Universitäten, Zulieferer und Wettbewerber. Nooteboom (1992) wies bereits vor über zwanzig Jahren darauf hin, dass die Akteure in der wissensbasierten Wirtschaft – anders als beim normalen Güteraustausch – häufig in einem länger anhaltenden Interaktions- und Kommunikationsprozess außerhalb von Marktbeziehungen miteinander verbunden sind. Wissen zeigt hier ausgeprägte kollektive Eigenschaften, das sich vermehrt, wenn es mit anderen geteilt wird. Geteiltes Wissen bedeutet aber nicht, es stünde der Allgemeinheit generell zur Verfügung. Vielmehr kann es nur mit Personen geteilt werden, deren kulturelle Praktiken sich ähneln, etwa in Wissensgemeinschaften zur Reform der Gesundheitswirtschaft oder des Bildungssystems in peripheren Räumen (Kontextabhängigkeit von Wissen).
Ein unintendierter Wissenstransfer außerhalb von Marktbeziehungen wird unter dem Begriff Wissensspillover diskutiert. Damit werden Wissensflüsse umschrieben, die neben den geplanten Formen des Wissenstransfers über Märkte oder organisierte Kommunikationsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Wissensträgern spontan stattfinden und z.B. Orientierungshinweise über die Marktentwicklung, das Verhalten von Konkurrenten, die Erwartungen von Kunden usw. enthalten. Von Wissensspillovern wird ein starker Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung von Räumen erwartet. Hoch verdichtete, vielfältig spezialisierte Räume wie die Agglomerationsräume gelten als besonders fruchtbarer Nährboden für intraregionale Wissensspillover und als wichtiger Standortfaktor für innovative Kontexte präferierende Firmen der wissensbasierten Wirtschaft (z.B. Tödtling/Trippl 2013). Umgekehrt bedeutet dies für periphere, dünn besiedelt Räume mit einer schmalen Wissensbasis, dass hier die Spillovereffekte weniger wirkungsvoll zum Tragen kommen, periphere Räume also auch aus diesem Grunde gegenüber den Agglomerationsräumen zurückfallen und andere Wege der Wissensgenerierung suchen müssen, wenn sie nicht aus den wissensgesellschaftlichen Zusammenhängen herausfallen wollen.
1.1.4 Interaktion und Organisation der Wissensgenerierung im Raum
Die Art und Weise, wie diese Prozesse des Wissensaustauschs und der Wissensgenerierung organisiert werden und wie dabei die kommunikative Zusammenarbeit gelingt (Wissensteilung), ist letztlich entscheidend für die Lernfähigkeit der Gesellschaft und die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Es gilt dabei Arrangements zu finden, die es erleichtern, die kontextspezifischen Erfahrungshintergründe externen Wissens zu verstehen und dieses externe Wissen mit dem eigenen in anderen Anwendungskontexten entstandenen Wissen abzugleichen. Den Akteuren stehen hierfür grundsätzlich drei [Wi7] Governance-Formen zur Verfügung: Hierarchie, Markt, Netzwerk und Gemeinschaft [Wi8] (Hollingworth/Boyer 1997, Wittke/Heidenreich u.a. 2012). Während Märkte eine Auseinandersetzung mit den Entstehungskontexten des erworbenen Wissens nicht erlauben, weil das Kontextwissen der Wissenserzeuger nicht miterworben werden kann, und eine Integration externen Wissens in die eigenen Kontexte deshalb zu scheitern droht, sind Hierarchien vergleichsweise unflexibel in Bezug auf den Umgang mit externem neuem und andersartigem Wissen. Hierarchien eigenen sich für die Organisation von Routinen, also für die Anwendung bekannten Wissens in verstetigten Arbeitsprozessen und weniger für interaktive Lernprozesse, die innerhalb hierarchischer Strukturen nicht vorgesehen sind. Der Umgang mit Wissen bedarf also spezifischer Organisationsformen und Raumkonfigurationen, innerhalb derer mittels Kommunikation auf fremdes Wissens, einschließlich seiner Entstehungskontexte, zugegriffen und dieses in die eigenen Kontexte integriert werden kann.
Vor diesem Hintergrund scheinen von den vier bekannten Governance-Typen zwei für die Generierung von neuem Wissen durch Zusammenführung unterschiedlichen Wissens aus divergierenden Anwendungskontexten besonders geeignet zu sein: das Netzwerk und die Gemeinschaft.
Beim Netzwerk handelt sich in der Regel um eine vertraglich geregelte Zusammenarbeit mit dem Ziel, unterschiedliches Wissen zusammenzuführen, neues Wissen zu generieren und zu teilen. Ziel solcher Netzwerke ist eine gemeinsame Nutzenmaximierung im Rahmen einer „symbiotischen“ Beziehung, z.B. in einer Arbeitsgemeinschaft, in einem Forschungsverbund, in einem Wertschöpfungsverbund. Die Zusammenarbeit beschränkt sich meist auf temporäre Projekte für einen mittleren Zeitraum, während die Partner in allen anderen Bereichen eigene Ziele außerhalb des Netzwerkes verfolgen. Vor allem in der Wirtschaft finden sich derartige Netzwerklösungen in immer größerer Zahl, weil es den Unternehmen immer schwerer fällt, unterschiedliches Wissen intern zu produzieren. Sie gehen dazu über, sich auf zentrale Wissensfelder zu spezialisieren und benötigtes Wissen innerhalb von Kooperationsbeziehungen zu poolen. Sie nehmen dabei in Kauf, dass die Partner auch einen Zugriff auf die eigenen Wissensbestände erhalten und damit auch ihre „Verletzbarkeit“ als Wissensträger zunimmt (Ibert/Kujath 2011: 20).
Eine noch losere Form der Zusammenarbeit und des Wissensaustauschs ergibt sich in Communities [AS9] (Praktikergemeinschaften, epistemische Gemeinschaften). Derartige Gemeinschaften verbindet ein gemeinsames Interesse an einem Thema. Sie dienen dem Erfahrungsaustausch[AS10] , der Wissensbeschaffung oder auch der Organisation von Lernprozessen. Gemeinschaften sind informelle wissensbasierte Strukturen, innerhalb derer die Akteure nur begrenzt einen Zugriff auf das Wissen der anderen Mitglieder haben und auch nicht exklusiv darüber verfügen können. Anders auch als in Kooperationsarrangements besteht nur eine begrenzte Gestaltbarkeit des Prozesses der Wissensgenerierung. Denn der Vorgang hängt von der Bereitschaft jedes einzelnen Akteurs ab, Wissen preiszugeben und sich auf einen intensiven Interaktionsprozess mit den anderen Akteuren einzulassen. Auf der anderen Seite sind Gemeinschaften offene Organisationen, zu denen im Prinzip jeder Zugang hat, wodurch das hier generierte Wissen öffentlich zugänglich ist.
In räumlicher Hinsicht scheinen die dargestellten Interaktions- und Organisationsformen der Wissensgenerierung und des Wissensaustausches auf den ersten Blick zentripetale Kräfte und die Agglomerationsbildung zu begünstigen, denn sie erfordern die räumliche Nähe von Wissensträgern, um den Austausch von personengebundenem Wissen als Handlungsmöglichkeit (im Gegensatz zur reinen Informationsweitergabe) zu erleichtern. In den Agglomerationen selbst bilden Zentren als Kreuzungspunkte der Telekommunikation und des Personentransports privilegierte Orte für die Herstellung von temporärer Nähe zwischen Akteuren, die weltweit verteilt sein können. Agglomerationsräume sind mit ihren Zentren damit auch Knotenpunkte globaler Netzwerke und globaler Communities, die weniger in lokale Kontexte eingebunden sind als vielmehr innerhalb ihrer jeweiligen besonderen Wissenskontexte Nähe herstellen, die eine globale Verständigung über nationale und regionale Grenzen hinweg begünstigt.
Betrachten wir die ländlich-peripheren Räume unter den Aspekten von Netzwerken und Communities näher, so ergeben sich aufgrund dieser zunehmend räumlichen Offenheit der Wissensaustauschprozesse auch für diese Räume in der Wissensgesellschaft durchaus positive Perspektiven, sofern die hier sich bildenden Wissenskonzentrationen einen eigenständigen Wissensschwerpunkt bilden, der z.B. durch lokale Hochschulen, andere Bildungseinrichtungen und vor allem durch spezialisierte, das Wissen der Lokalität prägende Unternehmen gebildet wird. Wichtig für diese in der Regel kleineren Wissenskonzentrationen ist, dass sie (1) eine eigene Dynamik des Lernens entfalten (eigener Kontext als lernende Region), die weniger auf die Vorteile der Agglomerationen angewiesen ist (z.B. in der Weiterentwicklung anwendungsbezogenen Wissens), und (2) ihre Lern- und Innovationsfähigkeiten nicht allein aus den ortsspezifischen Wissensvorräten ziehen, sondern aus Beziehungsnetzen und Gemeinschaften, die überregional und sogar global angelegt sind. Der lokale Arbeitskräftepool mit spezifischen Fähigkeiten und Arbeitskulturen, die örtlichen Firmen sowie die Infrastrukturen des Verkehrs, der Kommunikation, der Bildung und Forschung bilden zusammen eine fundamentale lokale Ressource, die auch ländlich-peripheren Räumen eine Chance bieten, das weltweit verteilte Wissen zu absorbieren und zu verarbeiten (Kujath 2014; Kujath/Stein 2011; Malmberg/Maskell 2005). Benachbarte Agglomerationen können in diesem Zusammenhang Stationen bilden, in denen sie benötigtes externes Wissen finden und über die sie ihre Verbindungen zu externen Wissensträgern weltweit pflegen.
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